Der Bürokratieabbau kommt endlich in Fahrt – reicht das?
Schwerpunktthema: Mit Videoaufzeichnung - Halbzeitbilanz
Am 1. Oktober 2024 hat der Nationale Normenkontrollrat (NKR) seinen Jahresbericht 2024 vorgestellt und auf einer Halbzeitbilanz-Konferenz mit Expertinnen und Experten die aktuellen Entwicklungen bei Bürokratieabbau, besserer Rechtsetzung und Verwaltungsdigitalisierung diskutiert. Zeit für einen Rückblick.
Die ganze Veranstaltung können Sie sich hier ansehen:
„Wer Bürokratie in Deutschland abbauen will, muss ins Detail gehen.“
Diesen Herbst erreicht der NKR die Hälfte seiner fünfjährigen Mandatszeit – ein guter Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen: Wie steht es um die Gesetzgebungsqualität, den Bürokratieabbau und die Modernisierung von Staat und Verwaltung? Welche Erfolge konnten bisher erzielt werden und wo geht es überhaupt nicht voran? Die Antworten unserer Gäste aus Bundesregierung, Opposition, Wirtschaft und Verwaltung fielen kontrovers aus.
Den Auftakt der Konferenz bildete eine Debatte zwischen dem NKR-Vorsitzenden Lutz Goebel und Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann, moderiert von Dr. Inga Michler (WELT). Goebel würdigte die bisherigen Erfolge der Bundesregierung, betonte jedoch, dass die eigentliche Arbeit jetzt erst beginne: „Die low hanging fruits sind abgeerntet. Wer Bürokratie in Deutschland abbauen will, muss ins Detail gehen.“ Bürokratieabbau sei eine kleinteilige Aufgabe, die auch auf EU-Ebene angegangen werden müsse. Die deutsche Wirtschaft sehne sich nach einer Pause von europäischen Vorschriften. „Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Deutschland bei den Verhandlungen in Brüssel mehr tun muss, um unverhältnismäßige Bürokratie zu vermeiden.“
Bundesjustizminister Buschmann bestätigte, dass es nicht „den einen roten Knopf für sofortige und langfristige Entlastungen“ gäbe, betonte aber die Entschlossenheit der Bundesregierung, die begonnene Arbeit fortzuführen. „Mit den geplanten jährlichen Bürokratieentlastungsgesetzen schaffen wir eine neue Tradition des regelmäßigen Abbaus.“ Besonders die Reform des Vergaberechts sei wichtig, da durch die komplizierte Rechtslage heute zwei- bis dreimal so viel Personal benötigt werde, wie vor zehn Jahren.
Einig waren sich Goebel und Buschmann auch darin, dass die oft hektische Gesetzgebung der letzten Jahre zu Lasten der Qualität ging. Gute, systematische Gesetzgebung brauche Zeit. Wichtig sei, wieder stärker auf die Verfahren der Gemeinsamen Geschäftsordnung (GGO) zu setzen, um bessere Ergebnisse zu erzielen.
„Klagelieder helfen nicht. Was wir brauchen, sind mehr Praxischecks.“
Sven Giegold, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), warb in seiner Keynote für das Erfolgsprojekt seines Hauses, den Praxischeck: „Die Bürokratisierung hat einen Grad erreicht, der nicht mehr erträglich ist, aber Klagelieder helfen nicht. Was wir brauchen, sind mehr Praxischecks.“
Die Ankündigung der Bundesregierung, diese künftig in allen Ministerien umzusetzen, sei der richtige Schritt. Durch die Einbindung von Betroffenen könnten Gesetze viel effizienter gestaltet werden.
In der Forderung des NKR, Praxischecks auch schon während des Gesetzgebungsprozesses durchzuführen und nicht erst nach Inkrafttreten von Regelungen, sah Giegold großes Potential. Auch auf EU-Ebene werde der Bürokratieabbau vorangetrieben. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe den neuen EU-Kommissar für Wirtschaft und Vereinfachung damit beauftragt, den sogenannten „Reality Check“ durchzuführen. Bürger und Unternehmen sollen der EU-Kommission bürokratische Hürden melden, um so Vereinfachungen anzustoßen.
Die ganze Rede von Herrn Giegold können Sie auf der Internetseite des BMWK nachlesen.
Vier Perspektiven: Bundesregierung, Opposition, Wirtschaft und Verwaltung
Im Anschluss an die Keynote trafen Politik, Wirtschaft und Verwaltung in einer Podiumsdiskussion über den Stand des Bürokratieabbaus aufeinander. Dr. Martin Plum MdB, Sprecher für Bürokratieabbau der CDU/CSU-Fraktion, eröffnete die Diskussion mit scharfer Kritik: „Dass jetzt etwas passiert, ist gut, aber warum so spät? Es gab nie mehr Regeln als heute – über 96 000 Gesetze und Verordnungen.“
Dr. Eva Vesterling, Landesvorsitzende der Familienunternehmer in Bayern, pflichtete bei: „Wir Unternehmer merken nichts von der Entlastung. Wir arbeiten an der Belastungsgrenze und hatten auf Entlastung gehofft, aber diese bleibt aus.“
Der Vertrauensverlust der Unternehmen gegenüber dem Staat sei ein Armutszeugnis: „Ständig müssen wir beweisen, dass wir alles richtig machen. Das produziert Aufwand und Frust!“
Dr. Thomas Wilk, Regierungspräsident der Bezirksregierung Köln, schilderte die Situation aus Sicht der Verwaltung. Es seien nicht nur die Regulierung selbst, sondern auch Förderrichtlinien, die für zusätzlichen Aufwand sorgten. Angesichts des Fachkräftemangels sei es notwendig, die Verwaltung von unnötigen Vorschriften zu befreien und eine neue Fehlerkultur zu leben: „Die Verwaltung muss sich von einem übertriebenen Perfektionsanspruch lösen, um agiler zu werden. Wir sollten den Beschäftigten mehr Vertrauen entgegenbringen, damit sie effizient arbeiten können.“
Staatssekretär Sven Giegold zeigte sich zuversichtlich. Praxischecks hätten bereits positive Ergebnisse geliefert und sollten flächendeckend angewendet werden. Dr. Martin Plum plädierte für eine Verschärfung der bestehenden Bürokratiebremse „One in one out“ und schlug vor, zeitweise das Prinzip „One in two out“ anzuwenden, um tatsächlich spürbare Entlastungen zu erreichen. Dr. Eva Vesterling forderte sogar ein komplettes Belastungsmoratorium für Unternehmen: „Die Diskussion ist zu theoretisch – lasst uns einfach in Ruhe unseren Job machen!“
In der Schlussrunde bat Moderatorin Inga Michler die Panelisten um eine kurze Einschätzung, welche Maßnahme die größte Wirkung für den Bürokratieabbau haben könnte. Während für Giegold die flächendeckenden Praxischecks von höchster Priorität waren, sah Vesterling in der Entschlackung der Nachhaltigkeitsberichtspflichten kurzfristig Erleichterung. Regierungspräsident Wilk forderte, die Anwender von Gesetzen viel frühzeitiger in den Entwicklungsprozess einzubinden. Plum schloss die Diskussion mit einer digitalpolitischen Forderung: Das Once-Only-Prinzip, nach dem Daten einer Behörde nur einmal übermittelt werden, müsse endlich umgesetzt werden.
„Der Bürokratieabbau muss dauerhaft im Zentrum der politischen Debatte stehen.“
Die stellvertretende Vorsitzende des NKR, Prof. Sabine Kuhlmann, zog in ihrer Abschlussrede eine gemischte Bilanz. Zwar seien Fortschritte beim Bürokratieabbau erkennbar, doch blieben viele Baustellen ungelöst. „Die Forderungen nach weniger Vorschriften und einer stärkeren Einbindung der Betroffenen sind laut. Der Weg zu einer effizienteren Verwaltung und besseren Rechtsetzung ist noch lang, aber die Richtung stimmt.“
Die eingeleitete Trendwende könne Wirklichkeit werden, wenn der Bürokratieabbau dauerhaft im Zentrum der politischen Debatte stehe. Kuhlmann sprach sich dafür aus, die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesregierung (GGO) noch in dieser Legislaturperiode um angemessene Beteiligungsfristen und den verpflichtenden Einsatz von Digitalcheck, Praxischeck und Bürgercheck zu erweitern. Auch die im Koalitionsvertrag angekündigte Föderalismusreform müsse zügig umgesetzt werden, um die großen Herausforderungen direkt an der Wurzel zu packen.